Dissertation: Eine Maschine, die wirkt. Die Elektrokrampftherapie und ihr Apparat, 1938-1950.
Betreuer:
- Prof. Dr. Patzel-Mattern, Historisches Seminar Heidelberg
- Prof. Dr. Eckart, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Heidelberg
Abstract:
- Die Elektrokrampftherapie wurde 1939 in der Schweiz, dem Deutschen Reich und Großbritannien eingeführt. Die Behandlungsweise gilt bis heute als ebenso wirksam wie umstritten und ist als technisch ermöglichte psychiatrische Behandlung emblematisch. Im Gegensatz zu bisherigen historischen Forschungen stellte sich für die vorliegende Untersuchung die Frage wie die Elektrokrampftherapie überhaupt technisch realisiert, durchgeführt und aufgezeichnet wurde. Der Vergleich der Implementierung in Eglfing-Haar (DE), Münsingen (CH) und am Warlingham Park Hospital (ENG) verdeutlichte, das nicht von einer EKT gesprochen werden kann, sondern lokale Entwicklungen und Aneignungen, spezifischen Behandlungsweisen geschaffen wurden.
Die Analyse von Aufschreibesystemen, technischer Entwicklung und therapeutischer Praxis ermöglichte es aus dem polarisierten Diskurs zur EKT zwischen therapeutischer Wirksamkeit und Straferlebnis herauszutreten. Die Studie untersuchte wie Psychatier in den 1940er Jahren anhand der phänomenologischen Therapiedokumentation sowie ihrer Verarbeitung durch Rekontextualisierung und Verdichtung in Aufschreibetechniken die EKT als wirksame Behandlungsweise konstruierten und evaluierten. Die historische Darstellung rekonstruiert die technische Gestaltung in den Kliniken mit Unternehmen wie der Siemens-Reiniger-Werke AG, der Ediswan Co. oder Purtschert & Cie im Austausch mit Psychiatern in Heil- und Pflegeanstalten. Es wurde herausgearbeite, wie die klinikräumlichen Bedingungen von Saal versus Behandlungszimmer und Pavillonbauweisen die technische Entwicklung ebenso formten wie die elektrischen Eigenschaften des Hautwiderstands der Patienten und den Therapiestrategien der Ärzte sowie der Rationalisierungsdruck oder Personalmangel unter den Bedingungen von Krieg und nationalsozialistischer Gesundheitspolitik.
Die Möglichkeit lokaler Aneignung der Therapieweise und des internationalen wie interdisziplinären Austauschs über sie, entsprang der theoretischen Leerstelle – des Nichtwissens in ihrem Zentrum, welche in der analytischen Synthese herausgestellt wurde. Die technologische Beherrschbarkeit, welche mit einer konzeptuellen Lücke im Zentrum der EKT einherging, bildete die Grundlage der historischen, bis in die Gegenwart anhaltenden, Flexibilität und therapeutischen wie epistemischen Effektivität.
Exposé:
- Die Elektrokrampftherapie ist eine technisch wirkende, psychiatrische Behandlungsweise. Die Innovation, 1938 von Ugo Cerletti und Lucio Bini in Rom vorgestellt, wurde in den 1940er Jahren weltweit etabliert und prägte bis in die 1960er Jahre den psychiatrischen Behandlungsalltag. In der Krise der Anstaltspsychiatrie und dem gesellschaftlichen Wertewandel geriet die EKT als technischer Ausdruck eines alten Disziplinarregimes in Verruf. Es galt sie ebenso zu überwinden wie die manuelle Fixierung oder das im Ganzen abzuschaffende Anstaltswesen. Mit neuen Verfahren wie der transkraniellen Magnetstimulation oder der Deep Brain Stimulation hat die elektrische Reizung des cortikalen Gewebes, die elektrische Behandlungsweise psychiatrischer Erkrankungen seit den 1990er Jahren einen unerwarteten, neuerlichen Aufwind erlebt.
Die Dichotomie zwischen ‚drakonischer Disziplinierung‘ einerseits und ‚cutting-edge Neurotherapie‘ andererseits strukturiert auch das historiographische Schreiben über die Elektrokrampftherapie, wie die jüngsten Publikation von David Healy und Edward Shorter oder Markus Hedrich belegen. Die vorliegende Studie entzieht sich diesem Diskurs, indem das für die Behandlung notwendige Gerät und seine Effekte auf die psychiatrische Praxis, die Institution Klinik und die Krankheiten selbst ins Zentrum der Untersuchung gerückt werden. Das technische Artefakt kann so im Anschluss an jüngere Entwicklungen der Wissensgeschichte als Teilnehmer von historischen Entwicklungen untersucht werden. So wird die Psychiatriegeschichte um die Perspektiven der Technikgeschichte ergänzt. Über den vermeintlichen Umweg des technischen Artefakts unterwandert die vorliegende Studie die binäre Struktur von Arzt versus Patienten sowie Straf- versus Heilungsnarrativen. Die Untersuchung widmet sich dementsprechend der historisierenden Erforschung von Wechselwirkungen zwischen institutionellem Gefüge, Klinik, Ärzten, Patienten und Geräten, um konkrete Gestaltungs- und Funktionsweisen der Therapieformen vor Ort zu analysieren. Dabei steht nicht nur die Feststellung der Differenz sondern auch ihre Erklärung im Fokus des Interesses. Besonders mit Blick auf die geschichtswissenschaftliche Einordnung der therapeutischen Innovationen in der nationalsozialistischen Psychiatrie eröffnet die vergleichende Betrachtung der Mikrostudien neue Perspektiven.
Im Gegensatz zu bisherigen Untersuchungen geht die Arbeit nicht von einer historischen und universalen Konsistenz der Elektrokrampftherapie. Mit der These, dass es mehrere unterschiedliche EKTs gab, setzt sich die Studie stattdessen das Ziel, die lokale und historische Bedingung der Behandlungsweise zu erarbeiten. Ausgehend von dieser Annahme wird die EKT vergleichend untersucht. Die Behandlung und erste Apparate wurden 1939 in Münsingen in der Schweiz, in Eglfing-Haar im Deutschen Reich und am Warlingham Park Hospital bei London eingeführt. Die Einführung begrenzt den Anfang des Untersuchungszeitraum, der durch die routinierte Verwendung und technische Stabilisierung um 1950 am Ende beschlossen wird. Die Analyse vergleicht die lokale Implementierung der technischen Artefakte und stellt durch die Untersuchung dieser Prozesse heraus, wie im Zusammenwirken der technischen Gestalt, der baulichen Gegebenheit und der menschlichen Partizipanten Handlungsmacht und Dynamik hergestellt wurde.
Die Betrachtung wird auf drei Ebenen vorgenommen, welchen die inhaltliche Gliederung der Arbeit entspricht. Dies sind erstens die Aufschreibesysteme und -techniken, welche die schriftlichen Spuren – die Dokumentationen – der Elektrokrampftherapie erzeugten. Der zweite Abschnitt betrachtet die technische Gestaltung der Apparate und als Drittes untersuche ich die praktische Ausführung der Behandlungsweisen. Die multiperspektivische und transnationale Forschung basierte notwendigerweise auf einem heterogenen Quellenbestand, der unterschiedlichste Formen der Überlieferung in die Analyse einbeziehen musste. Neben klinischen Patientenakten und behördlichem Verwaltungsgut wurden Fach-, Lehr- und Handbücher befragt. Hinzu kamen die Überlieferungen der technischen Entwicklungen in der Form von Dokumentationen, Apparaten, Werbematerialen, Gebrauchsanleitungen und Schaltplänen. Ergänzt wurde dieser Korpus durch Filmmaterialien und die umfangreiche Überlieferung im Privatnachlass von Max Müller, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Münsingen. Darüber hinaus wurden im Rahmen der Forschung die veröffentlichten Arbeiten aus den relevanten psychiatrischen und allgemeinmedizinischen Fachzeitschriften studiert.
Die Arbeit ist konzeptuell multiperspektivisch angelegt, das heißt praxeologische, technikhistorische und medienwissenschaftliche Analysen werden kombiniert. Sie basiert auf einem umfassend erschlossenen, sowohl typologische Breite als auch inhaltliche Tiefe gewährleistenden Quellenkorpus. Durch diese theoretisch reflektierte und empirisch grundierte Vorgehensweise ist es möglich, eine über bisherige Darstellungen hinausgehende Untersuchung der Elektrokrampftherapie vorzulegen. Statt eine weitere in den überlieferten Grenzen verbleibende Reproduktion medizinischer oder psychiatriekritischer Narrative vorzulegen, gelingt durch die vielfältigen Perspektiven eine Situationierung und Positionierung der neuartigen Behandlungsweise der 1940er Jahre. Von der einen Elektrokrampftherapie ist dementsprechend kaum zu sprechen. Es konnte anhand der Quellen nachvollzogen werden, welche Individuationen der Technik und Praxis der Elektrokrampftherapie vor Ort vorgenommen wurden.
Die Arbeit gliedert sich in drei große inhaltliche Abschnitte der Analyse der EKT. Sie widmen sich erstens den papiernen Spuren der Behandlung in Tabellen, Akten, Protokollen und Kurven. Zweitens wird das Gerät als technische Voraussetzung und Gestaltung der Therapie erforscht und drittens die praktische Ausübung der Elektrokrampftherapie in der Behandlungssitzung betrachtet. Die Kapitel werden durch Zusammenfassungen beschlossen, welche die Ergebnisse für die Weiterarbeit im darauffolgenden Kapitel bündeln und in Bezug zur übergreifenden Leitfrage „Wie war die EKT?“ stellen.
Das erste Kapitel verfolgt die Frage „Wie wurde die EKT aufgeschrieben?“ und konzentriert sich hierzu auf die Dokumentationstechniken und Aufschreibesysteme des Behandlungsverfahrens. Fallakten, Tabellen und Formulare bildeten die materiellen, papiernen Spuren des überraschend flüchtigen mittels Elektrizität ausgelösten epileptischen Anfalls. Die Formen des Notierens und ihre mediale Strukturierung werden auf ihre unterschiedliche epistemologischen Funktionen befragt. Die Untersuchung folgt den Thesen, dass die schriftliche fixierte Elektrokrampftherapie den Gegenstand der klinischen Reflektion und des wissenschaftlichen Austauschs bildete und dass unterschiedliche Weisen des Aufschreibens, Differenzen der EKT hervorbrachten. Dies kann besonders eindrucksvoll anhand der Versuche gezeigt werden, die Behandlungsdosis einheitlich und eindeutig zu bestimmen. Die Untersuchung bringt ebenfalls hervor, dass die Psychiatrie der somatischen Therapien in den 1930er Jahren neue Verfahren der Therapiedokumentation und -evaluation entwickelte, welche die weitere Geschichte dieser medizinischen Disziplin maßgeblich prägten. Insbesondere mit der Elektrokrampftherapie bildete sich in der Begutachtung psychiatrischer Behandlungsverfahren eine Kultur der statistischen Evidenz heraus. Die stochastische Verdichtung und arithmetische Vereinheitlichung gestattete einen internationalen und interdisziplinären Austausch, verhinderte aber nicht lokale Ausformungen von Aufschreibesystemen. Sie wurden entsprechend den technischen, wissenschaftlichen und klinischen Bedürfnissen vor Ort angepasst.
Das Kapitel zur „Morphologie der Apparate“ studiert die Elektrokrampftherapie anhand der Frage „Wie war das Elektrokrampftherapiegerät?“. Die Untersuchung vergleicht die ersten technischen Umsetzungen im Deutschen Reich, der Schweiz und Großbritannien ausgehend von den italienischen Prototypen. Neben dieser synchronen-komparativen Dimension wird im Anschluss an Gilbert Simondon die „genetische Evolution“ der Technischen Objekte in Entwicklungsserien bis 1950 betrachtet. Dabei steht die Konvulsator Reihe der Siemens-Reiniger-Werke vom elektrisch-mechanischen Prototyp 1940 bis zum komplexen röhrenelektronischen Konvulsator III 1950 im Zentrum der Studie. Die Arbeit verfolgt im Anschluss an jüngste objektgeleitete Theorien die These, dass der Apparat nicht allein Objekt menschlicher Nutzung und Interpretation ist. Die technischen Objekte sind dagegen durch ihre materielle Beschaffenheit und technische Funktion Teilnehmer in Prozessen wechselseitiger Erprobung und Anpassung. Dies kann an lokalen Differenzierungen erläutert werden, welche die Einbettung der einzelnen Geräte in spezifischen Raum-Personenkonstellationen und die Beziehungen zwischen Ingenieuren und Anwendern darstellen. Die spezifische und historische Gestaltung des Gerätes ist dabei nicht abstraktes Produkt der historiographischen Analyse, sondern bildet die zentrale Bedingung der therapeutischen Praxis.
Technikgestaltung war hinsichtlich der Elektrokrampfbehandlung immer auch Therapiegestaltung, wie die Untersuchung der therapeutischen Praktiken im letzten inhaltlichen Kapitel zeigte. Hier geht die Arbeit der Frage nach, wie die Behandlung durchgeführt wurde. Die Studie folgt dabei der These, dass die EKT neue Formen der therapeutischen Intervention mittels Elektrizität hervorbrachte. Sie formten sich in Abgrenzung und Anpassung zu bestehenden Therapieweisen der somatischen Behandlung und im Möglichkeitsrahmen der technischen und materiellen Qualitäten der EKT-Geräte. Entsprechend der zeitgenössischen medizinisch-wissenschaftlichen Abstraktionen wird die Behandlung auf der lokal-situativen Ebene der einzelnen Behandlungssitzung, der kombinierenden und therapeutisch wirksamen Ebene der „Kur“ auf der abstrakt-konzeptuellen Ebene der Wirktheorie betrachtet. Durch die Kombination vielfältiger Quellenformen wie Filmen, Berichten, Beschwerdeverhandlungen und Gebrauchsanweisungen wurde eine analytische Durchdringung der therapeutischen Praxis vorgenommen und hinsichtlich der Dimensionen Rationalisierung, therapeutische Wirksamkeit und Umsetzung eingeordnet. Dabei rekonstruiere ich wie vor Ort Effekte der EKT praktisch und technologisch stabilisiert, als erwünschte oder unerwünschte bewertet und im Folgenden verhindert oder verstärkt wurden. Unter anderen am Beispiel der Gedächtnisstörungen konnten die Verschiebungen in der Bewertung und Behandlung dieser Effekte für den Untersuchungszeitraum nachvollzogen und erläutert werden. Die vergleichende Analyse der Patientenakten lenkte den Blick auf Bestrebungen die Therapie gleichzeitig zu standardisieren und zu individualisieren. Diese Bemühungen bezweckten eine Rationalisierung der Behandlungsabläufe. Die Verdichtung der einzelnen Behandlungssitzung auf den Krampfanfall und die theoretische Unterlage eines strukturellen Nichtwissen beförderten die Gestaltung der Verfahren des Behandelns. Die spezifischen Epistemologien der psychiatrischen Diagnostik und der Wirktheorie rückten gegenüber den erlebten und erfahrenen Wirkungen in den Hintergrund.